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Das Grab der Ertegüns

Die drei Grabsteine auf dem Familiengrab der Ertegüns

Die Grabstelle der Familie Ertegün im Friedhof der Özbekler Tekke im Istanbuler Stadtteil Üsküdar, 4. Juli 2015.
© 2015 by Dieter Löffler

Leise dringt der Lärm des Verkehrs aus dem Zentrum Üsküdars den Hügel herauf. In einer stillen Nebenstraße zwischen einem Wohngebiet und dem Park, der sich zum Bosporus hinabzieht, steht eine um 1755 gebaute Tekke der Derwische der Özbekler, der Usbeken. Hinter dem 1994 renovierten Holzbau liegt im Schatten von großen Bäumen ein kleiner, ungepflegter Friedhof mit einigen Dutzend Gräbern. Halb verdeckt durch ein kleines weißes Häuschen am Eingang sieht man von der Straße her eine schlichte, vergitterte Grabstelle mit drei Grabsteinen.

Ein Grab und seine Geschichten

Kaum vorstellbar, dass diese Grabstelle historisch durchaus bedeutend ist und sich hier zuletzt im Jahr 2006 zahlreiche gewichtige Persönlichkeiten ein Stelldichein gegeben haben. Sie erwiesen einem der Großen der amerikanischen Musikbranche die letzte Ehre und verabschiedeten sich von Ahmet Ertegün, der fast 50 Jahre lang der Boss von Atlantic Records war. Auf der anderen Seite der Grabstelle liegt Nesuhi Ertegün, sein älterer Bruder und ebenfalls eine Legende. Er stieg 1956 in die Plattenfirma seines Bruders ein und betreute dort die Jazz-Abteilung.

Doch die Brüder waren nicht nur auf Musik fokussiert, sie waren auch leidenschaftliche Kunstsammler. Während Ahmet eine große Sammlung abstrakter amerikanischer Kunst aus der Zeit vor 1940 aufbaute, konzentrierte sich Nesuhi auf die Surrealisten. Das New Yorker Guggenheim Museum widmete seiner Sammlung zusammen mit der seines Freundes Daniel Filipacchi 1999 eine eigene Ausstellung. Und zusammen mit Steve Ross, dem Vorstand von Warner Communications, gründeten die beiden Brüder 1970 den schillernden Fußballklub New York Cosmos. Zudem setzten sie sich für enge Verbindungen zwischen den USA und der Türkei ein. Beide waren Mitglied der American Turkish Society, Ahmet Ertegün war 20 Jahre lang ihr Vorsitzender.

Zwischen den beiden Brüdern liegen in einem gemeinsamen Grab ihre Eltern Münir und Hayrünnisa Ertegün sowie die Großeltern väterlicherseits, Mehmet Cemil Bey, ein osmanischer Beamter, und Ayşe Hamide Hanim. Ayşe Hamide Hanim war die Tochter eines Sufi-Scheichs namens İbrahim Edhem Efendi, der dieser Özbekler Tekke vorstand.

Wie seine Söhne hatte auch Münir Ertegün ein durchaus bewegtes Leben. Nach dem Jurastudium in Istanbul wurde er Rechtsberater im Außenministerium des Osmanischen Reiches. 1920 wurde er mit einer osmanischen Delegation nach Ankara geschickt, um mit dem abtrünnigen General Mustafa Kemal zu verhandeln. Doch er schloss sich der aufständischen türkischen Befreiungsarmee von Kemal an und blieb gleich dort. Als Vertrauter Mustafa Kemals und Vertreter der jungen Türkischen Republik war er Chefjustiziar in den Verhandlungen zum Vertrag von Lausanne und später Botschafter in Genf, Paris und London, bevor er 1934 als Gesandter der Republik nach Washington (D.C.) geschickt wurde.

Jazz in der Botschaft

Nesuhi, Ahmet und ihre jüngere Schwester Selma wuchsen in einer musikalischen Familie auf. Hayrünnisa Ertegün war eine ausgezeichnete Musikerin. Sie spielte Klavier und diverse Streichinstrumente und förderte die Begeisterung ihrer Kinder für Musik, wo immer sie konnte. Mutter und Söhne sollen so ziemlich jede Platte gekauft haben, die auf dem Markt erschien. Angeblich gab es im Haushalt Ertegün zuletzt um die 15 000 Schallplatten. Münir Ertegün hatte ein Faible für Jazz, das sich wohl auf seinen Sohn Nesuhi übertrug. Schon 1930-32, als sein Vater Botschafter in Paris war, soll Nesuhi als Jugendlicher allein durch das Quartier Latin und Montparnasse gezogen sein und den Kontakt zur dortigen amerikanischen Künstlerszene genossen haben. Spätestens als Nesuhi seinen kleinen Bruder 1932 in London zu Konzerten der Orchester von Duke Ellington und Cab Calloway ins Palladium Theater mitschleifte, war auch Ahmet Ertegün dem Virus erlegen.

Gruppenfoto der Familie Ertegün: Ahmet, Hayrünnisa, Selma, Münir und Nesuhi Ertegün (von links nach rechts)

Münir Ertegün mit seiner Familie in der türkischen Botschaft in Washingtion (D.C.) im Februar 1942: Ahmet, Hayrünnisa, Selma, Münir und Nesuhi Ertegün (v.l.n.r.).
© Fotografin: Marjory Collins, FSA/OWI Collection der Library of Congress

Während ihrer Zeit in Washington luden die Ertegüns des Öfteren Jazz-Musiker zum Mittagessen am Sonntag in die Botschaft ein. Nesuhi und Ahmet hatten sie bei ihren Streifzügen durch die Clubs der Schwarzenviertel Washingtons und vor allem bei Konzerten im The Howard Theater kennengelernt. Nach diesen Mittagessen kam es gelegentlich zu spontanen Jazzsessions, etwa mit Duke Ellington, Benny Goodman, Nat King Cole oder Lester Young.

Aber die Ertegüns pflegten nicht nur privaten Kontakt auch zu afroamerikanischen Musikern, die zur damaligen Zeit aus dem offiziellen öffentlichen Leben der amerikanischen Hauptstadt verbannt waren. Sie öffneten ihnen zudem den Salon der Botschaft und veranstalteten hin und wieder Konzerte mit ihnen, die von Schwarz und Weiß besucht wurden. Damit setzten sie sich über die so genannten Jim Crow Laws hinweg. Diese Gesetze wurden ab dem Ende des 19. Jahrhunderts in den ehemaligen Konföderierten Staaten erlassen und schrieben die Segregation von Schwarz und Weiß im öffentlichen Leben auch de jure fest.

Freunde benutzen den Vordereingang

Einer Anekdote zufolge soll sich ein erzürnter Südstaaten-Senator darüber bei Münir Ertegün schriftlich beschwert haben: Es sei ungeheuerlicherweise beobachtet worden, dass ein Schwarzer durch den Haupteingang in die Türkische Botschaft gegangen sei. Das sei in seinem Land eine nicht förderungswürdige Handlungsweise. Münir Ertegün soll ihm geantwortet haben, in seinem Land sei es üblich, dass Freunde des Hauses dieses durch den Vordereingang betreten. Wenn der Herr Senator die Botschaft besuchen wolle, dürfe er aber gerne den Hintereingang benutzen.

Doch Nesuhi und Ahmet Ertegün beschränkten sich nicht auf die Türkische Botschaft. Sie veranstalteten auch Jazz-Konzerte im Jewish Community Center. Dieses Zentrum war der einzige Veranstaltungsort in Washington, in dem gemischtrassige Bands auftreten durften – und das auch noch vor einem gemischtrassigen Publikum. Und natürlich traten dort keine Nobodys auf, sondern Musiker vom Kaliber Lester Youngs oder Sidney Bechets.

Jazzmusiker bei Session in der türkischen Botschaft, irgendwann in den 1930er Jahren

Tommy Potter, Joe Marsala, Jay Higginbotham, Adele Girard, Tom Williston, Nesuhi Ertegun, Herb Abramson, Katherine Hurley und Clyde Hurley irgendwann in den 1930er Jahren in der türkischen Botschaft.
© Fotograf: William P. Gottlieb, The William P. Gottlieb Collection der Library of Congress

Münir Ertegün starb am 11. November 1944 an einem Herzinfarkt. Wegen des Zweiten Weltkriegs wurde er provisorisch auf dem Nationalfriedhof Arlington bestattet, erst im März 1946 ließ die amerikanische Regierung den Leichnam mit großen Pomp – als werbende Geste der Verbundenheit mit der Türkei – auf dem Schlachtschiff USS Missouri nach Istanbul überführen. Auch Hayrünnisa Ertegün kehrte mit ihrer Tochter Selma nach seinem Tod zurück in die Türkei. Doch Nesuhi Ertegün ging erst einmal nach Los Angeles und gründete dort eine Plattenfirma, die er passenderweise Crescent Records nannte. 1946 erwarb er eine zweite Plattenfirma, Jazz Man Records, und heiratete mit Marili Morden gleich noch die Besitzerin des Jazz Man Record Shop. Beide Plattenfirmen produzierten überwiegend New Orleans Jazz. Nebenbei arbeitete er noch als Redakteur für die kleine Jazz-Zeitschrift The Record Changer, betreute die Jazz-Band für eine Radiosendung von Orson Welles, die Orson Welles’ Mercury Theater Presents Radio Show, und unterrichte an der University of California den ersten Kurs für Jazz, der an einer amerikanischen Universität eingerichtet wurde.

Ahmet Ertegün blieb erst einmal in Washington und studierte an der von Jesuiten geleiteten Georgetown University Mittelalterliche Philosophie. Sein wirklicher Lebensmittelpunkt war aber mehr der Quality Music Shop von Max Silverman, in dem man spottbillig alte 78er Jazz-Scheiben bekam und der gleich ums Eck vom The Howard Theater lag. Dort arbeitete er, um sich das Studium zu finanzieren, und schnupperte in die Branche des Musikvertriebs hinein. Ahmet Ertegün hatte die Qual der Wahl zwischen einer Akademikerkarriere und seiner Leidenschaft für Musik, insbesondere für Jazz und Blues – und entschied sich für das Musikbusiness.

Er überzeugte einen alten Freund der Familien, den Zahnarzt Vahdi Sabit, von seinen Plänen, der ihm daraufhin 10 000 Dollar lieh, und gründete zusammen mit seiner Uni-Bekanntschaft Herb Abramson und dessen Frau Miriam im September 1947 die Plattenfirma Atlantic Records. Die ersten kargen Büroräume befanden sich im heruntergekommenen Jefferson Hotel in der West 56th Street in Midtown Manhattan auf der Hausnummer 234. Nach einem etwas schleppenden Beginn wurde daraus schnell eine der erfolgreichsten Firmengeschichten der amerikanischen Musikbranche, die zahlreiche Stars hervorbrachte.

The Atlantic Years

Ahmet Ertegün hatte ein gutes Gespür dafür, welche Musik gerade angesagt und welche Musik im Kommen war. Wurden am Anfang noch hauptsächlich New-Orleans-Jazz-Platten produziert, erweiterte sich das Programm im Laufe der Zeit immer mehr: Soul, Modern und Free Jazz sowie Rock und schließlich Funk.

Und Ahmet Ertegün hatte ein gutes Gespür dafür, fähige Mitarbeiter für die Firma zu gewinnen. 1952 warb er Jerry Wexler an, der zuvor als Redakteur beim Billboard Magazine gearbeitet und den Begriff Rhythm and Blues geprägt hatte. Mit dieser Musikrichtung erweiterte er auch als erstes das Repertoire von Atlantic Records. Er produzierte Musiker wie Ray Charles und Aretha Franklin, Wilson Pickett, Dusty Springfield und später Dire Straits. 1968 nahm er Led Zeppelin unter Vertrag. Ahmet Ertegün und Jerry Wexler lagen auf der gleichen Wellenlänge und verstanden sich bestens, so dass Ertegün ihn 1953 zum Teilhaber machte.

1956 folgte Nesuhi den Lockrufen seines Bruders. Er kam von der Westküste wieder an die Ostküste. Als Vizepräsident übernahm er die Jazz-Abteilung. Unter seiner Leitung öffnete sich Atlantic Records für die neuen Stile des Jazz: John Coltrane, Charles Mingus, Ornette Coleman und das Modern Jazz Quartet spielten Platten ein. Zu seinem Aufgabenbereich gehörte auch der Aufbau einer Produktionsabteilung für die damals relativ neuen Langspielplatten. Und er kümmerte sich darum, dass sich die Qualität der Pressungen und der Cover deutlich von denen der Konkurrenz abhob. Als Herb Abramson 1958 aus der Firma ausstieg, übernahm er dessen Anteile am florierenden Unternehmen.

Später kamen noch Produzenten wie Arif Mardin (1959) oder Joel Dorn (1967) dazu. Mardin hatte großen Anteil am Erfolg von Aretha Franklin und arbeitete unter anderem mit Bette Midler, Diana Ross und Norah Jones zusammen. Dorn brachte Roberta Flack groß heraus, betreute aber auch Max Roach, Les McCann, Eddie Harris, Willy DeVille und die Neville Brothers.

Mindestens genauso wichtig waren hervorragende Arrangeure wie Jesse Stone und Phil Spector. Und ohne den Toningenieur Tom Dowd wäre der Erfolg von Atlantic Records überhaupt nicht möglich gewesen. Er führte lineare Fader auf den Mischpulten sowie 8-Spur-Recording und Stereo-Aufnahmen ein, und sorgte so dafür, dass Atlantic Records in den 50er und 60er Jahren die Aufnahmetechnik in der Branche revolutionierte und neue Standards setzte.

Gerade zu Beginn, so erzählte Ahmet Ertegün gelegentlich, sei der Erfolg der Firma das Ergebnis der Zusammenarbeit eines bemerkenswerten kulturellen Dreiecks gewesen: Er selbst und sein Bruder waren türkische Muslime, sein Mitbegründer Herb Abramson und viele seiner Produzenten waren Juden und die meisten Musiker Schwarze. Dieses Konglomerat von Minderheiten mischte zusammen die Musikszene auf und machte die einst verfemte Musik der Schwarzen zum amerikanischen Mainstream.

Ahmet Ertegün formte ein erfolgreiches Label und seine Stars. Er war ein Tausendsassa, der Zeit seines Lebens auf allen Ebenen der Firma mitmischte. Er zog durch die Clubs von Manhattan oder New Orleans, um neue Talente zu finden, waltete als Produzent und Manager, wirkte als Backgroundsänger und schrieb unter dem Pseudonym A. Nugetre auch selbst erfolgreiche Lieder: Mit Don't You Know I Love You und Fool, Fool, Fool stürmten zum Beispiel die frisch bei Atlantic Records unter Vertrag genommenen The Clovers 1951 die R&B-Charts von Billboard. Auch R&B-Hits wie Chains of Love und Sweet Sixteen stammen aus seiner Feder.

Auf Drängen von Nesuhi Ertegün und Jerry Wexler verkauften sie Atlantic Records 1967 an Warner Brothers-Seven Arts, woraus später WEA bzw. die Warner Music Group hervorging. Sie befürchteten, dass Atlantic Records auf Dauer nicht groß genug wäre, um sich gegen die Majors, die großen Plattenfirmen, zu behaupten. Im Gegensatz zu vielen anderen kleinen Plattenfirmen, die aufgekauft wurden, blieb Atlantic Records aber nicht nur als Labelname bestehen, sondern auch als selbstständig agierende Firma – und das erfolgreich.

Der neue Eigentümer war sich bewusst, wem das Unternehmen seinen Erfolg verdankte, und hatte darauf bestanden, dass Ahmet und Nesuhi Ertegün und Jerry Wexler weiter für Warner arbeiteten. Während Ahmet Ertegün bis 1996 Atlantic Records leitete, wechselte Nesuhi Ertegün 1971 an die Spitze von WEA International, der internationalen Vertriebsorganisation der Warner Music Group, und blieb dort bis 1987. Zwei Jahre später, am 15. Juli 1989, starb er in New York im Mount Sinai Medical Center an Krebs und wurde im Familiengrab in Üsküdar beigesetzt.

Rock and Roll Hall of Fame and Museum

Nesuhi Ertegün wurde 1991 posthum in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. Die Idee, eine Art Ruhmeshalle des Rock 'n' Roll zu gründen, kam Ahmet Ertegün schon 1983. Zusammen mit Jann S. Wenner, Jerry Wexler und einigen anderen entwickelte er diese Idee weiter und begann sie in großem Stil umzusetzen. So wurde etwa für die Planung und Verwirklichug des Museumsgebäudes, das in Cleveland gebaut wurde, der Star-Architekt Ieoh Ming Pei engagiert.

Ein Komitee von Musikhistorikern sucht nun seit 1986 jedes Jahr einige Musiker, Bands, Songschreiber, Produzenten, Journalisten oder andere Personen aus, die für die Rock-Musik eine bedeutende Rolle spielen oder gespielt haben, um sie in diese Ruhmeshalle aufzunehmen. Seit 1987 gehört auch Ahmet Ertegün selbst zu diesem Kreis. 1995 wurde die Rock and Roll Hall of Fame offiziell als Museum eingeweiht.

Highlife in Manhattan

Im Jahr 1960 lernte Ahmet Ertegün die aus Rumänien geflohene Ioana Maria Banu kennen, die unter dem Künstlernamen Mica eine bekannte Innenarchitektin wurde und die Liebe seines Lebens war. Sie heirateten am 6. April 1961, lebten in ihrer Residenz in Manhattan und schmissen zahlreiche Partys mit zahllosen Prominenten.

Einladungen zu den Ertegüns – zu ihren Partys oder in ihre Sommerresidenz im türkischen Bodrum, die sie 1971 kauften – wurden in Vanity Fair einmal als the hottest ticket in town bezeichnet. Der Diplomatensohn und Musikmaniac war auf dem Parkett der High Society und in den Kreisen von hohen Politikern, Finanzmagnaten und Industriemogulen ebenso zuhause wie in schmuddeligen Jazzclubs, im Backstage-Bereich von Rock- und Rap-Konzerten oder auf wilden Musikerpartys. Noch in der letzten Phase seines Lebens, mit über 80 Jahren, verschwand er oft nachts in den Clubs von New York und kam dann selten vor dem Morgengrauen nach Hause.

Jann S. Wenner, der Herausgeber und lange Zeit auch Chefredakteur des Rolling Stone, beschrieb ihn in einem Nachruf 2007 so: Ahmet sah aus wie eine charmante, wohlhabende und adelige Kombination aus orientalischem Pascha und dem Zauberer von Oz. Mit einer rauchigen Stimme sprach er verblüffend schleppend in einem Patois der hipster-coolen «Hey Mann, du kennst den Typen»-Art, bei dem womöglich fünf verschiedene Akzente ineinanderflossen. Währenddessen sah er alle um ihn herum prüfend durch seine Schildpattbrille an, die Augen oft halb geschlossen. Er erschien immer mit einem exakt gestutzten Spitzbart und nie mit auch nur einer Falte in seiner Kleidung. Er hielt länger als jeder andere an der Bar durch, oder jedem anderen vorstellbaren Ort, und an Schlafen dachte er so gut wie gar nicht. Er war einer jener Menschen, die jederzeit genau wissen, was zu tun richtig ist. Er irritierte. Er verpasste nie eine Party und sobald er in einem Club war, kam er selten früh nach Hause.¹

Und Tori Amos ergänzt: Labels und Musiker kommen nie miteinander aus, weil sie denken, wir sind Bälger, und wir denken, sie hätten nur nicht genug geraucht. Aber bei Ahmet weißt du, dass er mehr geraucht hat, als du jemals rauchen wirst. Ich weiß ja nicht, was er immer in seinen Tee tut, aber er kann dir deinen Arsch von der Tanzfläche tanzen. Ich kann nicht mit ihm mithalten. Er kann dich fix und fertig machen.² Härtere Kaliber konnte Ahmet Ertegün mit seiner Vorliebe für Wodka auch unter den Tisch saufen oder – wie bei Mick Jagger – mit seiner duldsamen Schweigsamkeit mürbe machen, was vermutlich erklärt, warum er so erfolgreich darin war, Musiker für seine Firma an Land zu ziehen.

Am 29. Oktober 2006 gaben die Rolling Stones im New Yorker Beacon Theatre ein Benefizkonzert zugunsten der William J. Clinton Foundation. Das Konzert wurde von Martin Scorsese für den Film Shine a Light aufgezeichnet. Wie fast immer bei solchen Anlässen befand sich auch Ahmet Ertegün unter den Gästen. Als er im Backstage Bereich eine Treppe hinunterstürzte, zog er sich schwere Kopfverletzungen zu, an denen er am 14. Dezember im Weill Cornell Medical Center des New York Presbyterian Hospital starb.

Abschied

Wie schon seine Eltern und sein Bruder wurde auch Ahmet Ertegün im Familiengrab in Üsküdar bestattet. Für die Überführung seines Leichnams sorgte Paul Allen. Der Mitgründer von Microsoft stellte seine private Boeing zur Verfügung. Zum Trauergottesdienst vor dem Begräbnis am 18. Dezember in der Moschee der Theologischen Fakultät der Marmara Universität erschienen neben einigen mitgereisten Freunden aus den USA auch zahlreiche türkische Prominente. Selbst Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan ließ es sich nicht nehmen zu kommen, obwohl ihm Lebensstil und Einstellungen des Verstorbenen sicher genauso wenig gefallen haben dürften, wie dessen Herkunft aus der laizistischen Istanbuler Oberschicht.

Am Grab lobte Außenminister Abdullah Gül die großen Verdienste des Verstorbenen, die dieser durch sein Wirken in den USA für die türkischen Nation erbracht hätte. Und während der Vizepräsident von Warner Music, Kevin Liles, festhielt, Es war nicht die Hautfarbe der Menschen, die sangen, auf die er achtete, sondern der Gesang, die Lyrik und die Musik, war sich der Präsident von Warner Music America sicher, dass das einzige, was Ahmet Ertegün mehr als die Musik geliebt hatte, die Türkei war.³ Als sich die Trauergäste von Ahmet Ertegün verabschiedeten, warfen sie extra aus Bodrum geholte Erde auf seinen Sarg.

Quellen:

1  Jann S. Wenner, Ahmet Ertegun: 1923-2006, in: Rolling Stone, Nr. 1018, 25. Januar 2007

2  Zitiert nach: Leslie Bennetts, Devil in a Bespoke Suit, in: Vanity Fair, Januar 1998

3  Anonym, Ertegün, dualarla defnedildi, in: İş'te Gündem, 18. Dezember 2006,
    www.istegundem.com/haber/Ertegun-dualarla-defnedildi/7240, aufgerufen am 4. Juli 2015